Zusammenfassung zu Estlands Wetter 2010

Text und Fotos: Jüri Kamenik
Übersetzung ins Englische: Liis
Vom Englischen ins Deutsche: Leonia
 
 
In diesem Überblick werden vielfach meteorologische Fachbegriffe verwendet. Wenn Sie sich mit ihnen vertraut machen wollen, können Sie dort nachschauen: http://apollo.lsc.vsc.edu/classes/met130/notes/. Dort finden sich gute und einfache Erklärungen zum Wetter und zur Meteorologie (in Englisch), daher ich kann es sehr empfehlen.
 
Der Winter 2009/2010 begann Mitte Dezember. Zu Anfang gab es auf dem Festland kaum Schnee, aber viel auf den westlichen und südlichen Inseln. Der stärkste Schneefall ereignete sich am 17. Dezember in der Rigaer Bucht, wo auf der Sõrve-Spitze und Kolka innerhalb von 24 Stunden 1 Meter Schnee fielen. Die Ursache war ein kleines Tiefdruckgebiet und sehr kalte Luftmassen über der offenen See. Auf Sõrve lag die offizielle Schneehöhe nur bei 41 cm, aber in Kolka in Lettland waren es 100 cm. Es lag genug Schnee, um den gesamten Winter überdauern.
Später fiel viel Schnee als Resultat aus dem See-Effekt (Effekt offenen Wassers) und Tiefdruckgebieten in Nord-Estland. Der Schneefall war Ende Dezember und Anfang Januar an der Nordküste besonders stark. Die Schneehöhe erreichte letztlich 63 cm, das war ein neuer Rekord für die Station Tallinn Harku. Die Höhe reduzierte sich später infolge von Wind, Verdichtung der Schneedecke und Verdunstung.
Nach den Weihnachtsfeiertagen begann eine ununterbrochene Periode kalter Tage ohne Tauwetter, die bis Ende Februar dauerte. Am 24. Februar querte ein kleines, aber kräftiges Tiefdruckgebiet mit einem warmen Sektor über Estland und brachte dem halben Land Tauwetter. Die nördlichen Bereich waren vom Tauwetter zunächst unberührt, aber einige Tage später war es überall soweit. 
Eine Übersicht über die Frostperiode: in Jõhvi dauerte sie 76 Tage, die längste Spanne des vergangenen Winters! Der frühere Rekord stammt auch aus Jõhvi, aus dem Winter 1995/1996, mit 69 Tagen ohne Tauwetter. Die kürzeste tauwetterfreie Periode gab es in Sõrve, “nur“ 48 Tage, aber für die Beobachtungsstation war dies ein Rekord. Die insgesamt längste Frostperiode in Estland dauerte 90 Tage in Viljandi und Ristna im Winter 1941/1942.
Die Schneedecke wuchs, bis sie den offiziellen Daten nach im März ihre maximale Höhe erreichte: in Nordost-Estland lag der Schnee über 70 cm hoch.
Im März gab es außerdem mehrere Gewittertage. Gewitterschnee (eine relativ seltene Art Schneesturm mit Schneefall als Niederschlag an Stelle von Regen) gab es am 13. und 14. März. Mehr darüber können Sie auf http://www.horisont.ee/node/1566 lesen (alle, auch die folgenden Links in Englisch).
Eine sehr bemerkenswerte Phase ereignete sich im Januar, als es über eine Woche lang Reif gab. Auf dem Höhepunkt erstreckte sich der Reif über Tausende von Quadratkilometern, das heißt über mehrere Länder hinweg. Die ausgedehnte Bereifung wurde am 11. Januar noch gesteigert durch Nebel an der südwestlichen Küste, dennoch war das Wetter sehr kalt. Innerhalb von 24 Stunden jedoch verteilte sich der Nebel mit wärmerem Wetter über Estland. Dieser Nebel war auch erstaunlich wegen seiner Ausdehnung und Dauer. Seine Ursache lag im Eintreffen warmer und feuchter Luft aus dem Norden — in Lappland zum Beispiel begann Tauwetter, aber in Estland hielt die Kälte noch an, wenn auch vermindert. Der Reif verstärkte sich von Tag zu Tag und letztendlich war die Schicht dann mehrere Zentimeter dick. Bis zum 19. Januar war der Reif verschwunden, aber auch später im Winter gab es immer mal wieder welchen, wenn auch nicht so lang anhaltend.
 
Reif am Abend des 15. Januar in Tartu
 
Klar und kalt in Nõmme am 23. Januar
 
Frühlingswetter gab es bereits schon am 24. und 25. März. An einigen Orten stiegen die Temperaturen bis auf über 10˚C. So gab es beispielsweise am 27. März örtlich +13˚C. Am Abend zog aus Südwesten eine Gewitterfront *  mit Donner und Hagel über Estland. Das Gewitter wurde durch eine Kaltfront begünstigt, die sich von Südwesten her näherte. Das warme Wetter währte fort und häufig traten Warmluftströmungen auf. Am 1. April lagen die Temperaturen beispielsweise bei +15 ˚C und örtlich sogar noch höher, und es war recht sonnig.
 
Der Mai war vor allem wegen seiner Kontraste interessant. Beispielsweise gab es am 8. Mai einen Tag mit zwei Estlands: kühles und bewölktes Wetter in der einen Hälfte, aber heißes Sommerwetter mit häufigen Gewittern in der anderen; mehr darüber unter http://www.ilm.ee/?47354. Obwohl die größte Hitze am nächsten Tag vergangen war, war es einige Tage später und dann auch in ganz Estland wieder heiß. Am 13. Mai begannen zwei Wochen mit heißem und gewittrigem Wetter. Erst ab 24. Mai kühlte die Witterung wieder ab und wurde gleichmäßiger. Der Juni war hauptsächlich kühl, vor allem aber sehr regnerisch, besonders im östlichen und südlichen Estland. Ein interessanter Aspekt ist, dass es an vielen Orten nicht einen einzigen Gewittertag gab, abgesehen vom 11., 12. und 30. Juni, weil nur da das Wetter sehr warm geworden war, sogar heiß und es daher örtlich gewitterte.
 
Anfang Juli war es normal warm, aber binnen weniger Tage wurde es heiß. An vielen Orten gab es an mehreren Tagen Gewitter. Am 8. Juli konnte man in der Gegend von Põltsamaa gut entwickelte Mammatus sehen (das ist ein meteorologischer Begriff für eine Art Beutelbildung an der Unterseite einer Wolke). Eine Mammatuswolke sieht aus, als sei ihre Unterseite mit Blasen übersät. Obwohl dies gelegentlich mit Windhosen und ähnlich zerstörerischen Wetterphänomenen in Zusammenhang gebracht wird, muss man feststellen, dass die Gefahr bereit vorüber ist, wenn man sie sieht, da eine Mammatuswolke vorwiegend beim Wegzug von Gewitterwolken erscheint. So war es auch am 8. Juli.
Danach gab es einige Tage mit ruhigerem Wetter und der üblichen mitsommerlichen Hitze. Aber bereits Mitte Juli erreichten heiße Luftmassen aus Westafrika von Mitteleuropa aus das Baltikum. In vielen Gebieten Estlands stieg die Höchsttemperatur auf über 30˚C. Am 15. Juli gab es vielerorts Gewitter und an einigen Orten wurden außergewöhnlich schöne Gewitterwolken gesichtet.
Danach ging die Hitze etwas zurück, aber am Monatsende wurde das Wetter in Estland durch ein Hochdruckgebiet mit tropischen Luftmassen über Russland beeinflusst. Einige tropische Nächte gab es mit Mindesttemperaturen über 20˚C. Die Nacht des 26. Juli war mit mehr als 25˚C um Mitternacht und 23˚C am Morgen außergewöhnlich heiß. Weil dadurch viel Energie in der Atmosphäre lag, entwickelte sich über Lettland in der Nacht eine Gewitterfront, die sich nordwestlich bewegte und verstärkte. Sie erreichte am frühen Morgen Tallinn, war dann aber bereits geschwächt und verursachte daher nicht viel mehr als starken Wind und einen beeindruckenden Anblick.
Auch der 29. Juli war sehr schwül. Der Tag war insofern interessant, als es einerseits viel kühler als an den Vortagen war und andererseits, er sehr windig mit sich kaum bewegenden Wolkenfetzen begann. Bei solchem Wetter sind üblicherweise keine Gewitter zu erwarten, aber gegen Abend hin bildeten sich zunehmend Gewitterwolken und am Abend bekam der größte Teil Estlands seinen Anteil ab. Gelegentliche Gewitter, wenn auch seltener, gab es auch an den restlichen Julitagen.
Die erste Augusthälfte war ähnlich heiß mit häufigen Gewittern. Am Morgen des 8. August zog ein kraftvolles Gewittersystem über Westestland, das Hagel mitführte und die Temperatur auf unter 10˚C senkte. In ganz Estland war der Tag sehr ruhig, aber am Abend zog binnen zwei Stunden ein Derecho, also eine besondere Form einer (Sturmböen verursachenden) Gewitterwolke, über das Land. Er führte örtlich zu Zerstörungen. Im Gefolge dieses Systems zogen zahlreiche weitere Gewitterwolken nach Ostestland, wo einige davon weitere, jedoch weniger gravierende Zerstörungen verursachten. Am Abend entwickelten sich sehr kräftige Gewitterzellen in Lettland und im Rigaer Golf, die den Inseln wieder kräftige Gewitter bescherten. Bei Erreichen des Festlands lösten sie sich jedoch auf.
 
Besonders kräftiges Gewitterzentrum am Morgen des 8. August. Es brachte auch Hagel mit sich.
Quelle:  Sat24
 
Der 15. August war ebenfalls ein außerordentlich schwüler Tag. Nahezu tropische Luftmassen erreichten Estland und bereits am frühen Morgen erreichten kräftige Gewitterwolken die westlichen Inseln Estlands. Während des Tages zogen sie über ganz Estland hinweg und verstärkten sich am Nachmittag über dem östlichen Estland. Jenseits des Peipussees steigerte sich die Gewitterfront wieder bis zum Grad eines Derecho; Estland entging knapp einem zerstörerischen Sturm. Vor Eintreffen des Sturmes lag die Temperatur bei über +34˚C. In Estland waren es 32˚-33˚C bevor der Sturm eintraf..
Der 17. August war der letzte ungewöhnlich schwüle Tag; gleichzeitig war es sehr heiß. Ich war an diesem Tag in Hiiumaa. Als ich auf der Autofähre zurückkehrte, war das Wetter richtig sommerlich, sehr warm und nur schwach windig. Es standen nur wenige Wolken am Himmel, davon einige niedrige hauptsächlich über Hiiumaa, und der Himmel zeigte diesige Streifen. Während der Fahrt entdeckte ich, als ich Richtung Pärnu schaute, eine orangefarbene Wolke (die Sonne ging unter), die sehr schön war und einen Rand aus Zirruswolken besaß. Sie gewegte sich direkt auf uns zu; als ich nach weiteren Informationen suchte, fand ich heraus, dass es ein kräftiges Gewitter über Pärnumaa war. Kurz bevor wir den Festlandshafen erreichten, gab es die ersten Blitze und so entschied ich, ein wenig abseits vom Hafen eine offene, aber unbeleuchtete Stelle aufzusuchen, um die Blitze zu beobachten. In der ersten Stunde gingen die Blitzeinschläge noch weit entfernt zu Boden, aber als das Gewitter sich näherte, zuckten die Blitze an der Wolkenoberfläche oder beleuchteten die gesamte Wolke (kriechende Blitze in Amboß-Wolken oder Wolke-zu-Wolke-Blitze).  Es regnete nicht und war warm, daher waren die Verhältnisse, das Gewitter zu beobachten, in jeder Hinsicht angenehm. Der Anblick war fantastisch, es gab Dutzende Blitze; schließlich erschien eine weitere Wolkenformation, anscheinend von seewärts, mit noch mehr Blitzen; es begann zu regnen und endlich ließ das Gewitter nach. Das Gewitter dauerte insgesamt mehr als drei Stunden. Am Anfang war es ein wenig windig, aber insgesamt war es ruhig. Es schien, als ob das Gewitter hauptsächlich über Hiiumaa hing, der Anblick dort war noch beeindruckender, ich selbst befand mich am Rande des Gewitters. Später stellte sich heraus, dass die Leute von Hiiumaa nicht sonderlich viel von dem Gewitter abbekommen hatten, daher hing das Gewitter offensichtlich irgendwo über dem Väinameri (der Meerenge zwischen dem Festland und den Inseln).
Der 18. August war bewölkt und in einigen Regionen sehr regnerisch. An vielen Orten traten leichte Gewitter auf, aber es blitzte nur zwischen den Wolken und war daher von unten nicht zu sehen. Nord-Estland entging Starkregen und Gewittern. Von da an war das Wetter nur noch mäßig warm, sogar kühl und mit herbstlicher Atmosphäre. Nur an einigen Tagen stieg die Temperatur auf etwa + 20˚C. Häufig war es windig mit Schauern. Am Abend des 22. August gab es ein schwaches aber interessantes Gewitter. Das Wetter war kühl mit tiefhängenden Wolken. Nichts kündigte das Gewitter an. Dann änderten sich plötzlich im Südwesten die Wolken, ein dunkles Wolkenband bewegte sich aufwärts. Die Sonne ging unter und färbte den westlichen Himmel tiefrot. Plötzlich zuckte oben ein rötlicher Blitz. Wenige Minuten später zuckten weitere Blitze. Gleichzeitig hörte man Donner. Bei Einbruch der Dunkelheit zog ein etwas kräftigeres Gewitter von Südwesten über den östlichen Teil des Himmels. Als die Wolken sich verzogen hatten, stand über uns der Sternenhimmel und der Mond beleuchtete die Spitzen der Gewitterwolken.
 
Der September war recht durchschnittlich. Das außergewöhnlich schöne Wetter am 24. und 25. September war bemerkenswert. Es war fast zu warm, außerdem ruhig und sonnig (ziemlich stickiges Wetter). Die endete jedoch bereits am 26. September, danach war das Wetter herbstlich.
 
Im Oktober fiel mehrfach Schnee. Das erste Mal am 12. Oktober, der heftigste Schneefall fand am 22. Oktober statt, hervorgerufen durch ein aktives, aber kleines Tiefdruckgebiet, das quer über Estland zog. Der Schnee blieb nicht liegen. In der folgenden Nacht gab es Gewitter, mehr Einzelheiten dazu unter http://www.ilm.ee/?48027
 
Der November war zu Anfangs warm und Schnee schien fern zu sein. Mehrfach entwickelten sich außergewöhnlich starke Windströmungen (Jetstrom) über Europa aufgrund von stark unterschiedlichen Temperaturzonen, http://www.ilm.ee/index.php?48110. In der Monatsmitte entwickelte sich eine so einflussreiche kleinräumige Luftströmung (http://apollo.lsc.vsc.edu/classes/met130/notes/chapter12/long_short_wave...) an einer Polarfront, dass sie die letzte Sommerwärme schnell auch nach Estland blies; daher wurde beispielsweise in Tartu am 15. November eine Rekordtemperatur gemessen. Örtlich lag sie über + 13˚C. In der folgenden Nacht erhob sich plötzlich ein Sturm, als wieder eine Polarfront am Abend durchzog, und hinter ihr strömte mit pfeifend hoher Geschwindigkeit kalte Luft nach Estland. Danach folgte normales Herbstwetter. In der Nacht des 18. November bewegte sich eine kräftige Warmfront quer durch Estland. Infolge dessen fielen bis zu 20 cm Schnee, der aber schmolz. Eine dauerhafte Veränderung hin zum Winter fand am 24. November statt, als das Wetter kalt wurde und dies von Schneefall und Schneetreiben begleitet wurde.
Ende November war das Wetter im Landesinneren kalt (bis zu -27˚C), an der Nordküste fiel aufgrund des Offenwasser-Effekts (lake effect) viel Schnee. Im Dezember sorgten ausgedehnte Tiefdruckgebiete der mittleren Breiten überall für starken Schneefall, es gab gewittrigen Schneesturm, und in den letzten Tagen des Monats war die Schneedecke dann auf bis zu 75 cm angewachsen. Eigentlich gab es bereits 50-70 cm am Novemberende in einigen Gebieten der Nordküste, aber bei den Wetterstationen wurde diese Höhe nicht erreicht. Am letzten Tag des Jahres hatte der Winter bereits mehr als einen Monat angedauert.

Sven-Erik Ennos Wetterüberblick 2010 : http://www.ilm.ee/?48336

 
Schneetreiben mit Gewitter am Abend des 4. Dezember in Tallinn.
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* Gewitterfront
Eine Front plötzlicher, bisweilen heftiger Gewitter, die sich an der Vorderseite einer Kaltfront entwickeln. Gewitterfronten können sich 80 bis 240 km vor einer aufziehenden Kaltfront aufbauen und können mehr als 160 km lang sein. Die Gewitter einer Gewitterfront können gefährliche Wetterverhältnisse verursachen, so etwa Hagel oder Regen begleitet von Sturm mit mehr als 96 km Geschwindigkeit pro Stunde; sie sind auch verbunden mit Windhosen, besonders im Frühjahr und Frühsommer.


 

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